Es gibt sie seit Jahrzehnten, sie sind in der Musikindustrie eine der wichtigsten Kompassnadeln, doch die wenigsten wissen, wie sie heutzutage funktionieren: die Charts. Wir haben uns für Euch mit den wichtigsten Hitparaden beschäftigt sowie Expertinnen und Experten interviewt.
Früher war es noch verhältnismäßig simpel: Wer am meisten Platten verkauft hat, stand ganz oben in den Charts. Doch im 21. Jahrhundert sieht die Musikwelt völlig anders aus als zum Beispiel in den Neunzigerjahren. CDs verlieren an Bedeutung, Vinyl feiert ein Revival und dann wären da noch die ganzen Streams und YouTube-Klicks, die das Erfassen der Charts nicht gerade einfacher gestalten. Wie genau setzen sich die Top 100 und vergleichbare Listen also zusammen? Was zählt eine verkaufte Platte, wie stark fällt ein Klick bei einem Streamingdienst ins Gewicht? Wir haben uns mit gleich drei Expertinnen und Experten über das Thema unterhalten: Nadine Arend arbeitet für GfK Entertainment, also das Unternehmen, das für die Berechnung der offiziellen deutschen Charts zuständig ist. Ulrike Altig ist Geschäftsführerin von Media Control und erstellt mit ihrem Team ebenfalls regelmäßige Hitparaden, die zum Beispiel von den großen Zeitungen abgedruckt werden. Außerdem haben wir uns mit Olly Hahn unterhalten, dem Produktmanager der Plattenfirma SPV. Er kennt die Charts aus einer anderen Perspektive, nämlich aus Sicht der Labels und Künstler, die möchten, dass ihre Veröffentlichungen möglichst weit oben in den Bestenlisten zu finden sind. Unsere drei Interviewpartner haben uns wertvolle Einblicke in die Welt der Charts geliefert, die wir nun mit Euch teilen möchten.
In Deutschland funktionieren die offiziellen Charts ein wenig anders als in den meisten anderen Ländern, erklärt uns Nadine Arend von der GfK. Während die internationalen Bestenlisten oft auf verkauften Stückzahlen basieren, werden die deutschen Top 100 nach Umsatz zusammengestellt. Entscheidend ist also nicht nur, wie häufig eine CD über die Ladentheke geht, sondern auch, wie viel sie kostet. Oder anders gesagt: Fünf verkaufte CDs für je 20 Euro sorgen für eine höhere Chartplatzierung als fünf verkaufte CDs für je 10 Euro. Deshalb gibt es in Deutschland auch verhältnismäßig oft teurere Box-Sets zu kaufen. Mit ihnen lässt sich mehr Umsatz generieren, wodurch sich die Platzierung in den Charts verbessert. Aber: Die Obergrenze liegt bei 40 Euro pro Produkt, damit der Wert einer Box nicht beliebig erweitert werden kann. Eine CD und einen Kleinwagen im Bundle anzubieten, funktioniert also nicht. Denn selbst wenn dieses Paket 10.000 Euro kostet, fließen davon nur 40 Euro in die Wertung ein. Eine häufige Kritik an den Box-Sets lautet, dass sie vor allem größeren Künstlern vorbehalten seien, die das Geld dazu haben, überhaupt Box-Sets zu produzieren. Das liegt nah, denn kleine Bands und Labels sind oft schon froh, wenn sie die Kosten für eine Vinyl- oder eine CD-Produktion bestreiten können. Doch welche Faktoren spielen noch die Charts hinein?
Eine Chartwoche dauert in Deutschland von Freitag bis Donnerstag. Was in dieser Zeit verkauft und angeklickt wird, landet am Freitag um 15 Uhr in der Bestenliste. In den Single-Charts fallen in die Wertung: physische Verkäufe, Downloads, Streams (werbefinanziert und Premium-Streams), Airplay sowie YouTube-Streams. Neuere Phänomene wie TikTok sind im Gespräch, denn auch dort wird in erheblichem Maß Musik abgespielt. In den Album-Charts fallen nur physische Verkäufe, Downloads und Premium-Streams ins Gewicht. Kostet eine Schallplatte im Geschäft 35 Euro, fließen diese 35 Euro eins zu eins in die GfK-Wertung ein. Mit Streams ist es nicht so leicht, weshalb die GfK mehrere Formeln zur Berechnung der Streaming-Gewichtung nutzt.
Der Wert eines Album-Streams setzt sich folgendermaßen zusammen:
Wie hoch der Wert eines Streams ungefähr ist, möchte die GfK nicht verraten, doch eins gibt uns Nadine Arend mit auf den Weg: Es ist nicht viel. Steht der Wert eines Streams fest, greifen die restlichen GfK-Regeln: Nur die zwölf meistgespielten Tracks eines Albums werden gewertet, mindestens sechs müssen insgesamt gestreamt werden. Die beiden meistgespielten Tracks werden für die tatsächlich erzielten Streams nicht berücksichtigt, was daran liegt, dass sie oft bereits starke Auswirkungen auf die Single-Charts haben. (Gezählt werden nur Streams ab 31 Sekunden. Laut GfK werden diese Formeln regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst, damit es bei der Berechnung nicht zu Unwuchten kommt.)
Die Formel zur Berechnung des Streaming-Umsatzes eines Albums lautet daher:
Für die Single-Charts kommen nach der GfK-Methode nur die bereits vorab veröffentlichten Songs sowie ein vom Label definierter Fokus-Song pro Album in Frage. Das ist ein Unterschied zu den USA, wo jeder Song eines Albums von Tag eins an als Single zählt. Nur so war es zum Beispiel möglich, dass Taylor Swift im Jahr 2022 zeitweise alle zehn Plätze der Single-Top-Ten gleichzeitig belagerte. In Deutschland sind die Songs, die nicht bereits veröffentlicht oder zur Fokus-Single erklärt wurden, nach der Albumveröffentlichung für zwei Wochen gesperrt. Erst danach dürfen sie in den Single-Charts gelistet werden. Physische Verkäufe gebe es im deutschen Single-Markt so gut wie gar nicht mehr, berichtet Arend im Gespräch. Der physische Markt für Alben sei aber auffällig stark und das wiederum sei besser für die Künstler, die an physischen Produkten mehr verdienen als an Streams.
Und wie ist es nun in den Media-Control-Charts?
Der wohl größte Unterschied zwischen den Charts der GfK und den Top 100 von Media Control: Die Media-Control-Charts entsprechen eher dem internationalen Standard und richten sich nach verkauften Stückzahlen. Ob ein Album teuer oder günstig ist, spielt dabei keine Rolle. Auch hier fließen die Klickzahlen von den Streamingdiensten ein, doch wie genau die Streaming-Dienste gewichtet werden, möchte uns auch Media-Control-Geschäftsführerin Ulrike Altig nicht verraten. Das Unternehmen berechne alle Faktoren entsprechend der Bedeutung am Markt und es gebe immer wieder Analysen, um zum Beispiel den Stellenwert von neuen Medien zu bewerten. Wichtig ist: Die Streaming-Parameter, mit deren Hilfe die Media-Control-Charts berechnet werden, sind für alle Künstler gleich, genau wie bei der GfK. Das Unternehmen sei darum bemüht, allen Musikern den gleichen Startpunkt anzubieten, auch wenn das natürlich nie ganz erreicht werden könne. Jeder solle grundsätzlich die Möglichkeit haben, in den Top 100 zu landen.
Die Herangehensweise von Media Control bezeichnet Altig als „Erbsenzähler-Mentalität“. Jeder Kauf, jeder Stream und jedes Airplay im Radio kommen in die Wertung und alles wird berücksichtigt. Die Charts, die man aus den Zeitungen und Zeitschriften kenne, das seien alles die Media-Control-Charts. Die Wertung der GfK sei vor allem branchenintern sehr relevant.
Anders als bei der GfK ist in den Media-Control-Charts jeder Song eines Albums eine potenzielle Single, ähnlich wie in den USA. Man müsse die Stücke dafür nur anmelden. Auch das Airplay wird eingerechnet und zwar zu 100 Prozent. So arbeitet Media-Control extra mit einem Unternehmen zusammen, das das Programm der Radiostationen komplett auswertet und genau weiß, welcher Song wie oft im Radio gespielt wird. Auf dieser Grundlage werde ein Ranking von 1 bis 1.000 gebildet und mit den weiteren Chart-Faktoren gematcht.
Mögliche Manipulationen habe man im Blick, so Geschäftsführerin Altig. Es gebe bestimmte Parameter, bei denen ein „rotes Lämpchen“ aufleuchte. Das gelte zum Beispiel, wenn dieselben drei Produkte zuerst in Köln dann in Leverkusen und wenig später in Düsseldorf gekauft würden. Hier könne man von einem Manipulationsversuch ausgehen. Man achte darauf, ob die Reise eines Produkts realistisch sei oder ob es eine Einflussnahme gebe. Schon solange es Charts gebe, werde versucht, sie zu manipulieren, das sei eben so. Wohl auch deshalb halten die Chart-Experten die genauen Gewichtungen fest unter Verschluss.
Und was sagt SPV-Produktmanager Olly Hahn zu all dem? Schließlich kennt er das Plattengeschäft aus einer anderen Perspektive.
Für Plattenfirmen und Künstler nehmen die Charts nach wie vor einen zentralen Stellenwert ein. „Je höher, desto besser“, erklärt SPV-Produktmanager Olly Hahn. Es gebe eine mediale Aufmerksamkeit dafür und einige Musikhörer würden durch die Top 100 neue Bands kennenlernen. Auch die Anerkennung der Labelarbeit, die mit einer Chartplatzierung einhergehe, sei natürlich ein wichtiger Faktor. Dass die offiziellen deutschen Album-Charts nach Umsatz berechnet werden, findet er schwierig. So könne man heute bereits mit knapp 6.000 durchverkauften Einheiten in der ersten Chartwoche in den Top 3 der Album Charts landen. Kritisch sei außerdem, dass es zwar täglich brancheninterne Trendcharts gebe, an denen man ablesen könne, wo man bezüglich der Verkaufszahlen aktuell stehe. Viele Verkaufszahlen würden aber erst am Chart-Tag selbst vervollständigt, was dafür sorge, dass sich die Chartplatzierung am Tag der Bekanntgabe oft noch einmal stark verändere.
Im Allgemeinen sei es wichtig, darauf zu achten, wer wann seine Alben veröffentliche. Das ergibt Sinn: Wenn Metallica eine neue Platte ankündigen, wird man in der entsprechenden Woche schlechte Chancen auf den ersten Platz haben. Besonders schwierig sei es, den Hip-Hop-Bereich einzuschätzen, so Hahn. Denn erfolgreiche Rapper könnten ihre Alben erst wenige Wochen vorher ankündigen und die Kommunikation mit den Fans und potenziellen Käufern über die Social-Media-Netzwerke sei vielfach direkter und schneller als über andere Medienformate.
In einem Punkt sind sich all unsere Interviewpartner einig: Rock- und Metalfans gehören zu den besonders treuen Musikfans und geben nach wie vor viel Geld für ihre Lieblingsbands aus. So kommt es inzwischen zum Beispiel vor, dass knüppelharte Thrash-Metal-Combos wie Legion Of The Damned den siebten Platz der Album-Charts erreichen. Das wäre Anfang der Neunzigerjahre noch undenkbar gewesen.
Eine große Hilfe könnten Hardrock- und Metal-Bestenlisten sein, findet Olly Hahn. Die gebe es in vielen anderen Ländern, aber ausgerechnet im rock- und metalbegeisterten Deutschland nicht. Interessant sei es außerdem, sich auch einmal andere Hitparaden anzuschauen, wie zum Beispiel die von Media Markt und Saturn, die ausschließlich physische Verkäufe erfassen. Man sei überrascht, wer da auf einmal die ersten Plätze belege. Ein Rapper wie Apache 207 erreiche ohne die Streaming-Zahlen noch nicht einmal die Top 20.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Deutschland ist ein gutes Pflaster für junge Rockbands, denn die physischen Verkäufe sind hoch und das nicht zuletzt im Rock- und Metalbereich. Ein paar Stellschrauben gibt es noch zu drehen und die Vergütung aus dem Streaming lässt sicher auch noch zu wünschen übrig. Doch das sind vielleicht Dinge, die sich in Zukunft noch verbessern.